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Das Gemeindekind (10)

Das Gemeindekind (11)

Außerhalb des Dorfes, zu Füßen eines Abhangs, den vor Jahren der längst ausgerodete Bauernwald bedeckt hatte, befand sich eine verlassene Sandgrube. Seitdem sie ihres Inhalts bis auf die letzte Ader entledigt worden, gehörte sie zu den toten Kapitalien des Gemeindevermögens, und keiner dachte daran, das öde Fleckchen Erde nutzbar zu machen; denn keiner, der da begonnen hätte zu pflügen und zu säen, würde die Ernte erlebt haben. Einmal nur bot der Verwalter der Frau Baronin, deren schlechteste Felder an die Sandgrube grenzten, dreißig Gulden für den von Unkraut überwucherten Winkel, trat jedoch, als der Kauf richtiggemacht werden sollte, von demselben wieder zurück. Von der Zeit an hatte kein Käufer sich mehr gemeldet. Das Erstaunen war nicht gering, als ein solcher endlich wieder auftrat, und zwar in der Person – Pavel Holubs.

Ein Jahr war vergangen, seitdem er aus der Untersuchungshaft entlassen worden, und Tag für Tag hatte er sich, im Winter wie im Sommer, am frühen Morgen auf die Beine gemacht und war erst mit der sinkenden Nacht heimgekehrt. Nichts vermochte die Gleichförmigkeit seiner Lebensweise zu unterbrechen, nichts ihm eine Teilnahmsäußerung für die Vorgänge in der Außenwelt zu entlocken. Über die Heirat Peters und Vinskas, die ganz in der Stille begangen worden war und im Dorfe sogar den hartnäckigsten Schweigern soviel zu reden gegeben hatte, verlor er kein Wort. An dem Tag, wie an jedem andern, ging er nach Zbaro, wo er immer Arbeit fand, in der Sägemühle, in der Zuckerfabrik oder im Wald. Er verdiente viel und konnte am Ende der Woche seinen Lohn ungeschmälert in die Sparkasse unter der Diele im Zimmer Habrechts legen, da ihn dieser mit Kostgeld und Kleidung versorgte. Mit Wonne sah er das Wachsen seines Reichtums und hätte sich überhaupt ganz zufrieden gefühlt – unter zwei Bedingungen. Ein Wiedersehen mit seiner Schwester wäre die erste, Ruhe vor den Neckereien der Dorfjugend die zweite gewesen. Aber keine von beiden wurde erfüllt. Sooft er sich an der Klosterpforte einstellte, wurde er unerbittlich fortgewiesen, und so zeitig er auch nach Zbaro ging, immer fanden sich Buben und Mädel, die noch zeitiger aufgestanden waren, um ihm aufzulauern und ihm unter dem Türspalt hervor oder über die Hecke hinweg nachzurufen: "Giftmischer! ... Bist doch ein Giftmischer!"

Pavel schwieg lange, klagte aber zuletzt voll Bitterkeit dem Lehrer seinen Verdruß.

"Schau, schau", erwiderte der, "jetzt ärgerst dich? ... Wie lang ist's her, daß dir um nichts soviel zu tun war als um die schlechte Meinung der Leute?"

Der Bursche wurde rot: "Man kann am Ende genug davon kriegen", meinte er, und Habrecht versetzte: "Das denk ich. Wenn sich einer Prügel geholt hat und im Anfang auch trotzt und sagt: Nur zu! – endlich wird's ihm doch genug, und dann sagt er: Hört auf! Aber just da packt diejenigen, die zuschlagen, erst die rechte Passion. Wie geht's denn mir und wie lange ist's denn bei mir her, daß ich gelacht habe, wenn die Leut gekommen sind und mich gebeten haben, ich soll machen, daß der Hagel ihr Feld oder der Blitz ihre Scheuer verschont? Es hat mir geschmeichelt.. Oh, lieber Mensch... und heute möchte ich jedem Esel um den Hals fallen, der nichts anderes von mir glaubt, als daß ich so dumm bin wie er selbst."

Im Wirtshaus berieten derweil die Bauern über den Verkauf der Sandgrube an Pavel. Anton der Schmied, um seine Meinung befragt, befürwortete die Sache.

Auf ihn hatte die Schuldlosigkeitserklärung, die Pavel von Amts wegen ausgestellt worden, Eindruck gemacht und das Gutachten der Sachverständigen ihn in dem Zweifel befestigt, den er von Anfang her an der Leichtigkeit der Gifte gehegt. Sein Rat war: Man verkaufe dem Buben die Grube; er hat Geld, er soll zahlen.

Der Vorschlag ging durch.

Pavel wurde mündig gesprochen und erwarb die Sandgrube zu hohem Preis, nachdem ihm begreiflich gemacht worden, daß die Gemeinde, welcher er ohnehin seit sieben Jahren im Beutel lag, am wenigsten ihm etwas schenken könne.

Was ihn betraf, er fand seinen Besitz nicht zu teuer bezahlt. Ihm erschien eine Summe immer noch gering, die ein Wunder getan und ihm, dem Bettler, dem Gemeindekind, zu einem Eigentum verholfen hatte. Sein Gönner und er beschlossen den Tag, an dem der Kaufkontrakt unterschrieben worden war, auf das feierlichste.

Habrecht zündete außer dem Lämpchen auch eine Kerze an, Pavel breitete seine Schätze vor sich aus, das Zeugnis vom Amte, den Kaufvertrag, den Rest seiner Ersparnisse und Miladas Beutelchen mit seinem noch unangetasteten Inhalt. Das Geld wurde gezählt und ein Überschlag der Kosten des Hausbaues gemacht. Um die Ziegel war keine Sorge, die sollte Pavel mit Erlaubnis des Lehrers auf dem Felde desselben schlagen, nach Ton brauchte man in der Gegend nicht weit zu suchen. Schwer hingegen ist das Holzwerk beizuschaffen, dazu reichen die vorhandenen Mittel nicht aus und können im günstigsten Fall vor dem nächsten Herbste kaum zusammengebracht werden. Zum Glück kommt der Dachstuhl zuletzt; die nächsten Sorgen Pavels galten der Planierung seines Grundes und dem Aufbau seiner vier Mauern. Genug für den Anfang, genug für einen, der zur Bestellung seiner Angelegenheiten nur die Zeit hat, die ihm der Dienst bei fremden Bauten übrigläßt.

Dies alles ausgemacht, und der Bursche holte Schreibmaterial herbei und verfaßte, schwer seufzend und unter größeren Anstrengungen, als das Fällen eines Baumes ihn gekostet hätte, folgenden Brief:

"Milada,

meine allerliebste Schwester ich bin dreimal bei dir gewesen aber die Klosterfrauen haben mir es nicht erlaubt der Herr Lehrer hat ihnen schon geschrieben. Milada ich hab die Sandgruben gekauft wo ich für mich und die Mutter das Haus bauen soll, bitte die Frau Baronin daß sie mich zu dir gehen laßt weil ich unschuldig bin und vom Gericht den Schein bekommen habe daß mir das Gericht nichts tun darf ich habe auch neue Kleider und möcht nicht mehr im Kloster Knecht sein weil ich die Sandgruben hab. So sollen mich die Klosterfrauen zu dir erlauben."

Auch an seine Mutter schrieb Pavel noch an demselben Abend und teilte ihr mit, daß sie, wenn ihre Strafzeit verflossen sein werde, eine Unterkunft bei ihm finden könne.

Von der Mutter kam auch bald ein Brief voll Liebe, Dank und Sehnsucht; die Antwort Miladas ließ lange auf sich warten und brachte, als sie eintraf, eine herbe Enttäuschung.

"Lieber Pavel, ich habe immer gewußt, daß du unschuldig bist" – hieß es in dem Schreiben –, "und mich gefreut und Gott gedankt, daß er dich würdigt, unschuldig zu leiden nach dem Vorbild unseres süßen Heilands. Und jetzt muß ich dir etwas sagen, lieber Pavel. Ich habe dich lange nicht gesehen, aber das war nur Gehorsam und kein freiwilliges Opfer, das hat mein Erlöser mir nicht angerechnet. Jetzt hat die ehrwürdige Frau Oberin erlaubt, daß du mich besuchst, und jetzt erst kann ich ein freiwilliges Opfer bringen. Ich tu's, Pavel, und bitte dich, lieber Pavel, komm nicht zu mir, warte noch ein Jahr, warte ohne Murren, denn nur das Opfer, das wir freudig zu Füßen des Kreuzes niederlegen, ist ein Gott wohlgefälliges und wird von Ihm denen angerechnet, für welche wir es darbringen. Laß uns freudig entsagen, du weißt, daß wir es für die Seelen unserer Eltern tun, die keine andern Fürsprecher als uns bei ihrem ewigen Richter haben. Komm also nicht. Wenn du aber dennoch kämst, lieber, lieber Pavel, es wäre umsonst-mich würdest du nicht sehen, ich würde die guten Klosterfrauen bitten, mich vor dir zu verstecken, du würdest wieder fortgehen, hättest mich nicht gesehen und mir das Herz nur unendlich schwer gemacht, denn ich habe dich lieb, mein lieber Pavel, gewiß lieber, als du dich selber hast."

"Was schreibt denn deine Schwester?" fragte Habrecht, der den Burschen mit betroffener Miene auf das Blatt niederstarren sah, dessen schöne regelmäßige Schriftzüge er langsam entziffert hatte Pavel beugte sich plötzlich vor, große Tränen stürzten aus seinen Augen.

"Was schreibt sie?" wiederholte der Lehrer, erhielt keine Antwort und fragte nicht mehr; er wußte ja bereits aus Erfahrung, wenn der Mensch etwas verschweigen will, dann gilbt es keine Macht auf Erden, die ihm sein Geheimnis entreißt.

Als das Frühjahr kam, schlug Pavel in einer Reihe von mondhellen Nächten die Ziegel zu seinem Bau. Mehr als einmal fand er, am Abend aus der Fabrik heimkehrend, seine Arbeit zerstört. Kleine Füße waren über die noch weichen Ziegel gelaufen und hatten sie unbrauchbar gemacht. Pavel lauerte den Übeltätern auf, erwischte sie und führte sie dem Pfarrer vor. Es wurde ihnen eine Ermahnung zuteil, die jedoch ohne Wirkung blieb, der Unfug wiederholte sich. Da beschloß Pavel, selbst Gerechtigkeit zu üben. Mit einem Knüttel bewaffnet, wollte er hinter einem alten breitstämmigen Nußbaum Posten fassen und die vom Dorfe heranrückenden Feinde dort erwarten, zerbleuen und verjagen. Zu seinem größten Erstaunen fand er jedoch das Hüteramt, das er antreten wollte, bereits versehen, und zwar – durch Virgil. Dieser hatte gleichfalls einen Stock in der Hand.

"Bin schon da", sagte er, "hab ihrer schon einige weggetrieben."

"Was willst du, Spitzbub?" fuhr Pavel ihn an. "Fort, schlechter Kerl, mit dir bin ich fertig!" Er erhob den Knüttel.

Virgil hatte den seinen auf den Boden gestemmt, beide Hände darauf gelegt und sich zusammengekrümmt. Zitternd und demütig sprach er: "Pavlicek, schlag mich nicht, laß mich hier stehen, ich stehe hier und geb acht auf deine Ziegel."

"Du, ja just du wirst achtgeben, du! ... Dich kenn ich. Geh zum Teufel."

"Sprich nicht von ihm!" wimmerte der Alte beschwörend, und seine Knie schlotterten, "sprich um Gottes willen von dem nicht. Ich bin alt, Pavlicek, ich werde bald sterben, du sollst zu mir nicht sagen: Geh zum Teufel."

"Alles eins, ob ich's sag oder nicht, alles eins, ob du gehst oder nicht, wenn du nicht von selber gehst, holt er dich."

Virgil fing an zu weinen: "Meine Alte wird auch bald sterben und fürcht't sich. Sie möcht dich noch sehen, bevor sie stirbt. Sie war's auch, die mir gesagt hat: Geh hin und gib acht auf seine Ziegel."

Pavel betrachtete ihn still und aufmerksam. Wie er aussah, wie merkwürdig! ganz eingeschrumpft und mager, vor Kälte zitternd in seinen dünnen Kleidern und dabei das Gesicht feuerfarbig wie ein Lämpchen aus rotem Glas, in dem ein brennender Docht schwimmt. Das Öl, von dem dieses jämmerliche Dasein sich nährte, war der Branntwein; der einzige Trost, der es erquickte, ein gedankenloses Lippengebet.

Armer Spitzbub, dachte Pavel, die Zeiten sind vorbei, in denen du mich mißhandelt hast, jetzt kriechst du vor mir. "So bleib", sprach er zögernd und immer noch voll Mißtrauen, "ich werd ja sehen, was für einen Wächter ich an dir hab."

Als er wiederkam, fand er alles in Ordnung; Virgil hielt wirklich treue Wacht, verlangte dafür nicht Lob noch Lohn und fragte nur immer: "Wirst nicht zur Alten kommen?"

Pavel ließ ihr sagen, von ihm aus könne sie in Frieden sterben, aber besuchen wollte er sie nicht mehr. Der Hauptgrund seiner Weigerung war die Furcht, Vinska bei ihrer Mutter zu treffen und ihr dort nicht ausweichen zu können, was er sorgsam tat, seitdem sie die Frau Peters geworden. Und wie er die Augen von ihr wandte, wenn er ihr begegnete, wie er jeder Kunde von ihr soviel als möglich sein Ohr verschloß, so verjagte er sogar jeden Gedanken an sie, der sich ihm unwillkürlich aufdrängen wollte.

Sie hatte das Ziel ihrer Wünsche erreicht, und er hatte ihr geholfen, es zu erreichen; jetzt sollte es aus sein. Was peinigte ihn denn noch, seinem Willen entgegen, stärker als seine eigene Stärke, was quälte ihn bei ihrem Anblick? Er kreuzte die Arme über dem Herzen und murmelte mit einem Fluche: "Klopf nicht!" Aber sein Herz klopfte doch, wenn die schöne Bäuerin vorüberschritt oder vorüberfuhr, in demselben Wägelchen, in dem ihr Mann, vor nun anderthalb Jahren, Pavel zu Gericht geführt hatte. Sie bemühte sich, glücklich auszusehen; es wirklich sein konnte sie kaum. Peter war ein tyrannischer und geiziger Eheherr, der alle Voraussetzungen der Virgilova zunichte gemacht hatte. Seine Schwiegereltern durften ihm nicht ins Haus; das wenige, was Vinska zur Verbesserung ihrer Lage tun konnte, geschah im geheimen unter Furcht und Zagen.

Sie selbst lebte im Wohlstand, hatte mit Gepränge die Taufe ihres zweiten Kindleins gefeiert, aber wie das erste, bald nach der Hochzeit geborene, war auch dieses, wenige Wochen alt, gestorben, und bereits hieß es im Dorfe: "Die bringt kein Kind auf."

Pavel war gerade dazugekommen, als man den kleinen Sarg ganz still und wie in Beschämung aus dem Tor hinausschaffte. Und ein Schluchzen hatte er aus der Stube dringen gehört, ein Schluchzen, das ihm durch die Seele ging und ihn an die Stunde mahnte, in welcher diejenige, die es ausstieß, an seiner Brust gelegen und ihn bestürmt hatte mit ihren Bitten und berauscht mit ihren Liebkosungen.

Den Tod des zweiten Enkels erlebte die Virgilova noch, kurze Zeit darauf schlug ihr letztes Stündlein nach schwerem, fürchterlichem Kampf.

Der Geistliche hatte von ihrem Pfühl nicht weichen dürfen; noch im Verröcheln verlangte sie nach Segen und Gebet, in ihren brechenden Augen war noch die Frage zu lesen: Ist mir verziehen?

Mit Gleichgültigkeit nahm Pavel die Nachricht ihres Todes auf und blieb ungerührt von den Wehklagen, die Virgil über den Verlust seines Weibes anstimmte. Der Trost, den er dem Witwer angedeihen ließ, lautete: "Kein Schad um die Alte", und Virgil unterbrach die Ergüsse seines Schmerzes, richtete die Augen zwinkernd auf Pavel und fragte halb überzeugt: "Meinst?"

Dies begab sich zu Ende des Sommers, und am ersten Sonntag, der dem Ereignis folgte, ließ der Pfarrer Pavel zu sich bescheiden.

Es war nach dem Segen; der Geistliche saß in seinem Garten auf der Bank unter dem schönen Birnbaum, dessen Früchte sich bereits goldig zu färben begannen, ganz vertieft in das Lesen eines Zeitungsblattes. Pavel stand schon ein Weilchen da, ohne daß er es wagte, den Pfarrer anzusprechen, bevor dieser das kleine, blasse, von einem breitkrempigen Strohhute beschattete Gesicht erhob und nach einigem Zögern sagte: "Dir ist Unrecht geschehen." Sein Blick glitt an Pavel vorbei und richtete sich in die Ferne: "Du hast am Tod des Bürgermeisters keine Schuld."

"Freilich nicht", entgegnete Pavel, "die Kinder laufen mir aber doch nach und schreien: Giftmischer! ... Ich möchte den Herrn Pfarrer bitten, daß er ihnen verbietet, mir nachzurufen: Giftmischer."

"Meinst du, daß sie es mit meiner Erlaubnis tun?" fragte der Priester gereizten Tones.

"Und die Alten", fuhr Pavel fort, "sind auch so. Dreimal hab ich kleine Fichten gepflanzt auf meinem Grunde, etwas anderes wächst ja dort nicht. Dreimal haben sie mir alles ausgerissen. Sie sagen: Dein Haus muß frei stehen, man muß in dein Haus von allen Seiten hineinschauen können, man muß wissen, was du treibst in deinem Haus."

Der Pfarrer räusperte sich: "Hm, hm... Das kommt daher, daß du einen so schlechten Ruf hast. Du mußt trachten, deinen Ruf zu verbessern."

Pavel murmelte: "Ich hab mein Zeugnis vom Amt."

"Nutzt alles nichts, wenn die Leute nicht dran glauben", sprach der Geistliche. "Auf den Glauben kommt es an, im großen wie im kleinen. Zu deiner ewigen Seligkeit brauchst du den Glauben an Gott, zu deiner Wohlfahrt hier auf Erden brauchst du den Glauben der Menschen an dich."

"Wär freilich gut."

"Du willst sagen, es wäre gut, wenn du ihn erwerben könntest. Willst du so sagen?"

"Ja."

"So bemühe dich. Du hast einen besseren Weg schon eingeschlagen und mußt nur trachten, auf ihm vorwärtszukommen. Ohne Stütze jedoch wird das kaum gehen, die wirst du noch lange brauchen. Bis jetzt war der Herr Lehrer deine Stütze... wird es aber nicht mehr lang sein können."

"Wie? warum? – warum nicht mehr lang?"

"Weil er versetzt werden wird, an eine andere Schule."

"Versetzt?" rief Pavel in Bestürzung.

"Wahrscheinlich."

Einen Augenblick sah der Pfarrer ihm fest ins Gesicht, dann sprach er: "Mehr als wahrscheinlich – gewiß. Mache dich darauf gefaßt und überlege, an wen du dich wenden kannst, wenn der Lehrer fortgeht, zu wem du in diesem Falle sagen kannst: Ich bitte, nehmen Sie sich jetzt meiner an."

Nach einer Pause, in welcher Pavel wie vernichtet vor ihm stand, fuhr der Pfarrer fort, aufrichtig bemüht, sich für den ungeschlachten Burschen, dem sein ganzer Mensch widerstrebte, wenigstens die Teilnahme des Seelsorgers abzuringen: "Überleg's; ist niemand da, zu dem du ein Vertrauen fassen und so sprechen könntest?"

Er mußte die Frage wiederholen, ehe sie beantwortet wurde, und dann geschah es mit einem so entschiedenen: "Niemand" daß der Priester es vorläufig nicht unternahm, diese feste Überzeugung zu erschüttern. Er räusperte sich abermals: "So, so", sagte er, "niemand? Das ist ja schlimm. Denke aber doch ein wenig nach, vielleicht fällt dir doch noch jemand ein." Er lehnte sich wieder an den Baum zurück, sah wieder ins Weite und schloß: "Du kannst nach Hause gehen, kannst auch dem Lehrer sagen, daß ich ihn vermutlich gegen Abend besuchen werde."

Pavel entfernte sich verwirrt, in halber Betäubung, als ob er einen Schlag auf den Kopf bekommen hätte.

Daheim fand er den Lehrer in der Stube am Tische sitzend vor seinem Buche, mit der von süßem Schmerz verklärten Miene, die er immer annahm, wenn er sich in diese geliebten Blätter versenkte. Pavel nahm Platz ihm gegenüber und betrachtete ihn mit unendlich gespannter Aufmerksamkeit. Lange wagte er nicht, ihn zu stören; endlich aber brach er – ohne seinen Willen, gegen seinen Willen – in die Worte aus: "Herr Lehrer, was muß ich von Ihnen hören?"

Kaum hatte er diese vorwurfsvolle Frage ausgesprochen, als ein Schrecken über die Wirkung, die sie hervorgebracht hatte, ihn erfaßte. Habrecht war aschfahl geworden, seine Augen verschleierten sich, sein Unterkiefer hing herab und zitterte, vergeblich bemühte er sich zu sprechen, er brachte nur ein unzusammenhängendes Gestotter hervor. Nach Atem ringend focht er mit den Händen in der Luft und sank unter Ächzen und Stöhnen auf seinen Sessel zurück. Pavel aber, der noch nie einen Menschen sterben gesehen hatte und meinte, das ginge viel leichter, als es in Wahrheit geht, sprang auf, warf sich auf die Knie und beschwor ihn händeringend: "Sterben Sie nicht, Herr Lehrer, sterben Sie nicht!"

Ein mattes Lächeln stahl sich über Habrechts Gesicht: "Unsinn", sagte er, "nicht von Sterben ist die Rede, sondern von dem, was du von mir gehört hast. Beichte!" befahl er, richtete sich auf und rollte fürchterlich die Augen. "Was war's, wie lautet der Unsinn? O vermaledeiter Unsinn! ... Kein Vernünftiger glaubt ihn, und doch lebt er vom Glauben, kugelt so weiter im Dunkel, in der Tiefe. Sie zählen sich ihn an den Fingern her, diejenigen, die selbst nicht mitzählen... Was hast du gehört? Sprich!" Er zog Pavel in die Höhe und rüttelte ihn; als der verblüffte Bursche jedoch anfangen wollte zu reden, preßte er die Hand auf seinen Mund und gebot ihm Schweigen.

"Was käme heraus? ... Was ich weiß im vorhinein, zum Ekel, was mich nicht schlafen läßt. Schweig", rief er, "ich will einmal reden, ich elender Lügner, ich will die Wahrheit sagen, ich armer Zöllner will sie dir, dem armen Zöllner, sagen. Setz dich, hör mir zu, beug dein Haupt. Wenn es auch nur eine klägliche Geschichte ist und die Geschichte einer jämmerlichen Torheit, sie ist doch heilig, denn sie ist wahr."

Er ging zum Wasserkrug, trank in langen Zügen und begann dann leise und hastig von den Tagen zu sprechen, in denen er jung gewesen, ein Lehrerssohn und Gehilfe seines kränklichen Vaters, durch Begabung und Verhältnisse, durch alles, was natürlich und vernünftig ist, bestimmt, einst zu werden, was jener war. In seinem Herzen aber kochte der Ehrgeiz, prickelte die Eitelkeit, diese üblen Berater lenkten seine Sehnsucht weit ab vom leicht Erreichbaren, spiegelten ihm ein hohes Ziel als das einzig Erstrebenswerte vor. Die Zukunft eines großen Professors in der großen Stadt, die träumte er für sich und sein schwacher Vater für ihn, und dieses Schattengebilde der Zukunft, es lebte und nährte sich vom Fleisch und Blut der Wirklichkeit, von der Kraft, der Gesundheit, dem Schlaf der Jugend... Wie lange kann eine an beiden Enden angezündete Fackel brennen? Kein Mensch vermag ungestraft zwei Menschen zugleich – bei Tag ein Lehrer und bei Nacht ein Student – zu sein. Als der erste noch jung, als der zweite doch schon recht alt; denn mit entsetzlicher Geschwindigkeit verrann die Zeit, die er für seine Zwecke nur zur Hälfte ausnutzen durfte. Eines Morgens brach er an der Tür der Schulstube zusammen. Wie aus der Ferne hörte er noch einen zitternden Klageruf, sah wie durch dichten Nebel ein vielgeliebtes Greisenantlitz sich zu ihm neigen, dann war alles Stille und Dunkelheit, und wohltuend überkam ihn das Gefühl einer tiefen, bleiernen Ruhe.

Lange Zeit verging; Habrecht lag dahin, anfangs in wirren Fieberträumen, später in dumpfer Bewußtlosigkeit. Man hielt ihn für tot, legte ihn in den Sarg und trug ihn in die Leichenkammer. Dort erwachte er. – Seine Rückkehr ins Leben erregte nur Entsetzen, sich ihrer zu freuen war niemand mehr da. Seinen Vater hatten Schrecken und Gram getötet, der schlief schon seit ein paar Tagen unter dem Friedhofrasen, und lieber hätte der Wiedererstandene sich neben ihn gebettet, als daß er, ein gebrochener Mann, den Kampf mit dem Leben von neuem aufnehmen sollte. An eine Fortsetzung seiner Studien war nicht zu denken – Habrecht bewarb sich um die Stelle, die sein Vater bekleidet hatte. Sie wurde ihm zuteil – zur Unzufriedenheit der Dorfbewohnerschaft.

"Daß einer, der drei Tage tot war, wieder lebendig wird, das ist, man mag es nehmen, wie man will, eine unheimliche Sache. Wo hat sich seine Seele aufgehalten während dieser drei Tage? Aus welchem grauenhaften Bereich kommt sie zurück? ..." sagten sie. Die seltsamsten Gerüchte begannen sich zu verbreiten, das Märchen vom Aufenthalt des Schulmeisters in der Vorhölle entstand. Und er ließ es gelten. Er war ein armer, zugrunde gerichteter Mensch, der gefürchtet hatte, sich kaum bei den Schulkindern in Respekt setzen zu können, und dem es schmeichelte, als er nun bemerkte, daß er sogar den Erwachsenen Scheu einflößte und daß nicht leicht jemand ihm zuwider zu sprechen oder zu handeln wagte. Seinen edlen Ehrgeiz zu befriedigen war ihm die Möglichkeit genommen, ein falscher Ehrgeiz bemächtigte sich seiner, und er ergriff zu dessen Sättigung unlautere Mittel. Er nährte den Wahn, den zu bekämpfen seine Pflicht gewesen wäre, er, ein Lehrer, ein Verbreiter der Wahrheit auf Erden, ein Streiter wider den Irrtum, er unterstützte die Lüge, die Dummheit – den Feind. Er war ein stiller Verräter an der eigenen Sache, er hielt das Vorurteil aufrecht, weil seine Eitelkeit dabei ihre Rechnung fand.

Der Pfarrer, der ihn durchschaute, rügte sein Tun; sein eigenes Gewissen warf ihm das Unrecht vor... Er beschloß, es nicht mehr zu begehen, er faßte den Vorsatz und dachte ihn leicht auszuführen.

Indessen – siehe da! was mußte er erkennen? Der Wahn, den er früher unterstützt hatte und nun austilgen wollte, war nicht mehr auszutilgen. Nicht in kurzer, nicht in langer Zeit, nicht mit kleiner und nicht mit großer Mühe...

"Ich habe dem Unverstand das Hölzchen geworfen", rief er aus, "und er hat eine Keule daraus gemacht, mit der er mich drischt... Ich habe mit Schlangen gespielt, und wie ich einsehe, daß ich Frevel treibe, und aufhören will, ist's zu spät, und ich bin unrettbar umringelt."

Von, peinlicher Unruhe gejagt, begann er seine gewohnten Wanderungen durch das Zimmer.

"Wär ich doch ein aufrichtiger Verbrecher, ein Mörder meinetwegen – ein ehrlicher Mörder und nicht die verlogene Kreatur, die ich bin... bin! denn man wird's nicht los. Die Falschheit hat sich hineingefressen in den Menschen und regiert ihn gegen seinen Willen. Das ist fürchterlich, wahr sein wollen und nicht mehr können."

Er blieb vor Pavel stehen, packte ihn an beiden Armen und rüttelte ihn: "Du wirst es auch erfahren, wenn du dich nicht änderst... Ändere dich, du kannst es noch."

"Was soll ich tun?" fragte Pavel.

"Nicht lügen, nichts von dir aussagen, was du nicht für wahr hältst, im Guten nicht, denn das ist niederträchtig, im Bösen nicht, denn das ist dumm. Du machst dich zum Knecht eines jeden, den du belügst, und wäre er zehnmal schlechter und geringer als du. Ich weiß, was du willst, dich trotzig zeigen, Scheu einflößen... Warte nur, bis der Tag der Umkehr kommt – er kommt bei dir, er bricht schon an – warte nur, wenn du einmal Grauen empfinden wirst vor dir selbst."

"Herr Lehrer", unterbrach ihn Pavel, "seien Sie ruhig, es klopft jemand."

Habrecht fuhr zusammen. "Klopft? – was? – wer? ... Ah – Hochwürden! ..."

Der Geistliche war eingetreten. "Ich habe dreimal geklopft", sagte er, "aber Sie haben nicht gehört, Sie haben so laut gesprochen." Seine klugen, scharfen Augen richteten sich prüfend auf den durch sein unerwartetes Erscheinen in Bestürzung versetzten Lehrer.

"O Hochwürden, wie schön... ist's gefällig? – einen Sessel... Pavel, einen Sessel", stammelte Habrecht und eilte zum Tisch, an den er die zitternden Beine lehnte und über den er wie beschützend die gerundeten Arme erhob. Mit einer selbstverräterischen Ungeschicklichkeit, die ihresgleichen suchte, lenkte er die Aufmerksamkeit des Priesters auf das, was er ihr um jeden Preis hätte entziehen mögen, auf das offen daliegende Buch.

Der Pfarrer trat ihm gegenüber, schlug, bevor Habrecht es hindern konnte, das Titelblatt auf, und von seinem Platze aus, ohne das Buch zu wenden, las er mit Schrecken, mit Abscheu, mit Gram: Titi Lucretii Cari: De rerum natura.

Er zog die Hand zurück, rieb sie heftig am Rocke ab und rief: "Lukrez... O Herr Lehrer- Oh! ..."

Und Habrecht, ringend in Seelenqual, sammelte sich mühsam, langsam – zu einer Lüge. "Zufall", stotterte er, "zufällig übriggeblieben das Büchlein, aus der Zeit der philologischen Studien... zufällig jetzt zum Vorschein gekommen..."

"Wünsche es, hoffe es, müßte Sie sonst bedauern", entgegnete der Geistliche, der ihn nicht losließ aus dem Bann seines Blickes.

"Und Sie hätten recht, der Sie einen Himmel haben und ihn jedem verbeißen können, der da kommt, sich bei Ihnen Trost zu holen", brach Habrecht aus.

Als der Priester ihn verlassen hatte, nahm er den zerlesenen Band, liebkoste ihn wie etwas Lebendiges und barg ihn an seiner Brust, seinen mit stets erneuter Wonne genossenen, stets verleugneten Freund.

Das Gemeindekind (12)