1. Teil - 1. Kapitel - Die Ankunft
Fabian fährt die Jalousien in seinem Büro wieder hoch. Morgens schien die Sonne direkt in sein Gesicht. Er hat Schulungsunterlagen zu erstellen. Er arbeitet nun schon ein Jahr in der Firma. Letztes Jahr hatte seine Vorgängerin ihn eingearbeitet und versucht, ihr gesamtes Wissen, das sie in den acht Jahren zuvor erworben hatte, ihm in zwei Monaten zu vermitteln. Nadja Uhland ist dominant, klug und arbeitete fast nur in ihrem Büro. Zur Zeit betreut sie gerade ihr wenige Wochen altes Kind und hat ihre Gedanken sicherlich nicht in bei der Firma. Fabian sitzt nun vor ihren Arbeitsmaterialien und muss schauen, wie er damit klar kommt. Nadja hat eine ganze Reihe umfangreicher und komplexer Rechenblätter, oder eher schon Rechenwelten hinterlassen. Sie ist bei der Erstellung auch immer wieder an die Grenzen ihrer intellektuellen Fähigkeiten gegangen und die waren weit. In ihre Rechenwelten musste er jetzt erst einmal eintauchen und diese nachvollziehen, bevor er damit arbeiten konnte. Nadja ist eine hervorragende Analytikerin. Leider ging die analytische Fähigkeit aber zu Lasten der didaktischen Fähigkeiten.
Fabian hatte erlebt, wie sie ihn in den zwei Monaten unter anderem zum Administrator der Software Cubes ausbildete. Cubes ist eine OLAP-Datenbank, eine Datenbank, in der Daten in Datenräumen abgelegt sind, die man über einen Direktzugriff in MS Excel analysieren kann. Vor den zwei Monaten Ausbildung wusste er noch nicht einmal, dass es solche Programme wie Cubes überhaupt gibt. Danach war er der Administrator, Ansprechpartner für alle Fragen zu dieser Software und Ausbilder für diese Software. Bei dieser Vorstellung lehnte Fabian sich zurück, schaut kurz aus dem Fenster und denkt: ‘Wow! In zwei Monaten vom absolut Unwissenden zum Experten!’ Fabian ist immer noch beeindruckt. Aber was hätten sie auch tun sollen. Eine Schwangerschaft lässt sich nun einmal nicht anhalten.
Jetzt sitzt er hier in einem großen lichtdurchfluteten Büro. Die Außenwand besteht aus einer großen Glasscheibe, ebenso die Wand in Richtung Mittelgang. Die Wände zu den Nachbarbüros sind weiß gestrichen. In der Mitte stehen die beiden Schreibtische für ihn und seinen Kollegen. An den Wänden jeweils zwei halbhohe, graue Schränke mit Schiebetüren. Die Tür steht offen: Open-Door-Policy! So etwas kennt er aber schon aus anderen Firmen. Die Mitarbeiter sollen sich ja nicht verkriechen, sondern zusammenarbeiten und miteinander kommunizieren.
Nun muss er aber schauen, wie er die Kollegen schult. Nadja hatte die Schulung immer als Fragestunde gehalten. Da immer nur wenige Leute kamen und kaum jemand etwas fragte, war ihrer Meinung nach doch eigentlich immer alles klar. Nadja schimpfte dann zwar immer wieder, da die Kollegen immer wieder Schwierigkeiten mit der Software hatten und klagten. Sie meinte: “Dann sollen sie doch in die Schulung kommen und Fragen stellen!” Fabian ging die Sache etwas anders an. Er hatte die Erfahrung gemacht, das der Mensch gern alles zubereitet haben möchte. Also ist er dabei, die zwei Folien von Nadja um etwa zwanzig zu erweitern. Außerdem will er einen Schulungsraum mit Rechnerplätzen. Er muss auch noch eine Übung erstellen. Fabian hatte schon häufiger andere geschult. Es war zwar das erste Mal, dass er einen Kurs hält, aber bei den individuellen Schulungen, die er in früheren Firmen hielt, bekam er direktes Feedback, wo er etwas richtig vermittelte und wann der Schüler nicht verstand, was Fabian zu erklären versuchte. Jetzt konnte er diese Erfahrung richtig umsetzen.
Außerdem hatte Nadja ihr Wissen zu den Cubes-Formeln immer zurückgehalten. Die Kollegen könnten damit nicht umgehen, meinte sie. Jetzt hatte er immer alle Excel-Berichte auf seinem Tisch, um diese anzupassen. Das soll nun anders werden! Er hatte auch schon einen Leitfaden zu den Cubes-Formeln erstellt und einige auch schon verteilt. Damit können die Kollegen jetzt die Anpassungen selbst vornehmen.
Er hatte sich damit zwar erst einmal viel Arbeit aufgehalst, aber wenn alles funktionierte, hat er zukünftig dann mehr Zeit für andere Sachen. Nadja hatte schon immer voll zu tun, um das Tagesgeschäft zu erledigen und schaffte dieses oft nur mit Überstunden. Kamen Sonderaufgaben, waren geregelte Arbeitszeiten nicht mehr zu halten. Er war auch schon oft bei seinem Chef gewesen, um ihn zu überreden, irgendwie noch eine zweite Person dazuzuholen. Mittlerweile hatte er auch schon zugestimmt.
Michael Habermann ist ein guter Chef. Er lässt Fabian unheimlich viel Freiraum. Es gibt eine klare Zielrichtung, der muss Fabian folgen, aber um dahinzukommen kann er tun und lassen, was er will. Michael steht auch hinter den Aktivitäten und Entscheidungen, die Fabian trifft. Fabian muss diese nur erklären können. Der neue Arbeitsstil, den er hier erleben darf gefällt Fabian. Er hat seine Entscheidung, hier anzufangen, auch noch in keinster Weise bereut.
Fabian muss los! Er hat gleich eine Besprechung. Er sucht seine Unterlagen zusammen. Er will sich den Hintergrund zu einer großen Personalkostenposition im Bereich Center erklären lassen. Bei den Personalcontrollern hatte er schon gefragt, die konnten ihm das aber nicht erklären und hatten nur auf die Bereichscontroller Center verwiesen. Die Raumnummer brauchte er jetzt noch. Ein gut gepflegter Kalender hilft da doch fix weiter. Fabian greift sich noch schnell einen Stift, der Ausweis darf nicht vergessen werden und läuft los.
Der Bereichscontroller im Center arbeitet eine Etage direkt über ihm. Fabian ist auf dem Weg durch den hellen Gang. Links und rechts arbeiten die Kollegen an ihren Rechnern, telefonieren, sind in Gesprächen zu zweit, zu dritt. Das Treppenhaus ist lichtdurchflutet. Direkt neben der Treppe ist eine Wand über fünf Stockwerke aus Glas. Vielleicht zwei Minuten benötigt er für den Weg, schon steht er bei seinem Gesprächspartner in der Tür und klopft gegen den Holzrahmen.
Hoi, Holger! Wie geht’s?” Holger Lohental freute sich jedesmal über seinen Besuch. Er hatte kurz vor ihm in der Firma angefangen und war im Bereich Center nun der personalverantwortliche Controller. Fabian setzt sich gleich einmal auf den leeren Stuhl neben dem Schreibtisch. “Wo ist denn eigentlich der Rest? Es ist so leer bei Euch auf dem Gang hier.” “Kleinschmitt ist im Urlaub und Jens und Volker sind in irgendeinem Termin.” “Kleinschmitt ist im Urlaub? Da habt ihr also sturmfreie Bude” gab Fabian grinsend als Antwort, “da könnt ihr also die Sau rauslassen und nackig über den Gang rennen!” Ein paar Minuten unterhielten sie sich noch, wie es jedem denn so ging und was sie gerade so machten. Für Fabian ist solch ein privater Teil so wichtig, wie das Gespräch selbst. Dadurch kann er eine bessere Bindung zu seinen Ansprechpartnern und Kollegen aufbauen und bekommt sehr viel mehr Informationen, als wenn er das nicht täte.
Holger erklärt ihm dann erst einmal kurz, womit es sich mit dieser Kostenposition auf sich hatte. “Willst Du mal sehen, wie wir das berechnen?” fragte er. “Ja, sehr gern!” Ein kleines Leuchten erscheint in Holgers Augen. Fabian rutscht mit seinem Stuhl um den Tisch, so dass er auf den Monitor schauen kann. “Du bist der Erste, der das mal sehen will. Ich wollte es den zentralen Personalcontrollern auch schon mal zeigen, aber die wollen das nicht sehen.” “Oh! Gerade sie müssten sich doch aber dafür interessieren! Sie müssen ja schließlich damit arbeiten.” “Ja, schon, aber sie wollen es nicht sehen.” Fabian ist nur etwas irritiert. In seinem Bereich verließen nur wenige das Büro und suchten das direkte Gespräch. Eine ausführliche Erläuterung der Berechnung und der anschließenden Auflösung dieser Position im Verlaufe eines Jahres folgte. Fabian war wieder etwas schlauer und andere Zusammenhänge wurden jetzt klarer. Ein Besuch bei den Bereichscontrollern half ihm immer wieder die Zahlen, mit denen er arbeitete, zu verstehen. Er bekam dabei auch vieles, was im Hintergrund lief, mit. Er merkte außerdem, wo es denn bei den Kleinigkeiten hakte und wo so die kleinen Wehwehchen sind. Er lief daher lieber mal direkt zu den Kollegen als zu Telefonhörer zu greifen.
Eine weitere Frage beschäftigt Fabian noch: “Kannst Du mir auch mal eine Auswertung über die Abweichung der Personalkapazitäten machen? Warum ist denn ständig der Erwartungswert unter dem Planwert? Sind das alles geplante Puffer oder fehlen Leute?” “Ich kann Dir ja mal eine Liste geben, welche Leute gegangen sind und warum.” “Na ja, so etwas brauche ich eigentlich nicht. Ich benötige eher eine Gesamtbegründung. Es sollte so etwas sein, wie, wir bekommen nicht genügend Mitarbeiter ran, weil wir zuwenig Schulabgänger haben, oder es sind überdurchschnittlich viele Mitarbeiter in den Ruhestand gegangen. Es kann auch heißen, dass Reserven eingeplant wurden, die nun aufgelöst werden. Wir müssen es nur dann nett formulieren. Aber vielleicht hilft ja die Liste mit den Abgängern.”