Übersicht

1. Teil

1.

Der ICE fährt noch nicht schnell. Mehr als 100 oder 120 km/h wird der Zug hier nicht fahren. In den Niederlanden war die Strecke schlecht gebaut. Wenn man den Gang entlang durch die Wagen schaut, verschieben sich die Wagen teilweise über mehr als einen halben Meter seitwärts. Erst ab Köln wird man die Masten an der Strecke mit 320 km/h vorbeisausen sehen. Dann kann man auch ein kurzes Stück entspannt auf die Autobahn schauen und sehen, wie die Autos in Richtung Frankfurt am Main ohne Mühe überholt werden.

Es ist ein heller, warmer Sommertag. Fabian Held lehnt sich entspannt zurück. Er sitzt in seiner hellblauen Levis-Jeans, einem weißen Hemd mit feinen, dicht gezogenen, blauen Linienmuster und weißen Hilfinger-Turnschuhen in einem Zug der Nederlandse Spoorwegen und schaut aus dem Fenster. Die meisten Reisenden erkennen gar nicht, dass dieser ICE nicht zur Deutschen Bahn gehört, da der Zug in den weißen und roten Farben der Deutschen Bahn gehalten ist und sogar das Personal die typische, dunkelblaue Kleidung aus Deutschland trägt. Nur der blaue Doppelpfeil an der Lok verrät den Eigentümer. Fabian ist einer der wenigen, die diesen gesehen haben.

Er ist auf dem Weg in seine neue Wohnung, seine neue Welt. Seine Wohnung in Zaandam hat er vor wenigen Stunden seinem Vermieter übergeben, oder vielmehr: Ex-Vermieter. Dieser hatte keine Mängel festgestellt. Damit war das jetzt erledigt!

Jetzt hat er nur noch den Rechtsstreit mit seiner früheren Kabelgesellschaft. Diese schuldet ihm noch etwa 160 €, weil sie bei ihm die Gebühr für das Fernsehsignal abgebucht hatten, obwohl er dieses über den Vermieter schon bezahlt hatte und wegen einiger anderer Streitpunkte. Mittlerweile wusste er, dass er nicht zum Gericht sondern zur Geschillencommissie Centrale Antenne Inrichtingen musste. Das Klageformular konnte er sich einfach von deren Internetseite herunterladen und dieses dann am Rechner ausfüllen. Er hatte es auch gleich einfach einmal um eine Seite erweitert. Er hatte zwar schon alles kurz und knapp beschrieben, aber eine Seite für die Klageschrift reichte einfach nicht aus.

Jetzt wollte er aber nicht mehr daran denken. Jetzt saß er im Zug, auf dem Weg in ein neues Leben. In seiner neuen Wohnung würde zwar noch einiges auszupacken sein, das hatte aber keine Eile. Alle wichtigen Dinge waren schon da, wo sie hingehörten. Seine Möbel standen in der neuen Wohnung auch schon dort, wo sie hinsollten und er hatte jetzt einen richtig klasse Job mit einem sehr guten Gehalt. Alles lief wunderbar!

Der Zug soll nun noch drei Stunden fahren. Gerade wird in drei Sprachen der Halt in Arnheim angekündigt. Fabian sucht die Kopfhörer hervor und stöpselt sie in den Anschluss zwischen den Sitzen, lehnt sich zurück und schließt die Augen.

Das junge Mädel vom Platz neben ihm war gerade unterwegs. Sie hatte sich in Utrecht neben ihn gesetzt und dann eifrig in einem Buch gelesen. Jetzt lag das Buch neben ihm auf dem Platz und sie war weg. Er schaute kurz: Niederländische Grammatik! Nein, er war nicht neugierig, er war nur ein wenig interessiert.

Sie kam wieder. Nach kurzem Zögern sprach er sie an. Sie reagierte sehr freundlich und gesprächsinteressiert. Gut, keine Musik, sein Buch wird also vorerst auch in der Tasche bleiben. Er würde sich nun unterhalten. Das mochte er. Wahrscheinlich würde er erst in drei Stunden feststellen, dass die Zugfahrt vorbei ist und er einfach dort angekommen ist, wo er hinwollte. Er unterhielt sich gern.

Sie kamen erst einmal auf das Erlernen der niederländischen Sprache und wie schwer oder vielmehr einfach dies für einen Deutschen ist. Fabian hatte nie einen Kurs mitgemacht. Er hatte sich einfach ein Wörterbuch geholt, sich wichtige Worte, wie “bitte”, “danke” und “Guten Tag!” herausgesucht, diese als “Grundwortschatz” gelernt und dann angefangen Zeitung zu lesen. Als Deutscher kann man da schon einiges verstehen. Natürlich konnte man anfänglich schon froh sein, wenn man den Artikel schon einmal thematisch richtig einordnen konnte und vielleicht sogar schon ganz grob wusste, worum es geht. Dann sollte man natürlich oft wiederkehrende Worte im Wörterbuch nachschlagen. Am Anfang hieß das: Man sucht sich einfach die häufigsten Worte in der Zeitung oder auf Anzeigen und Schildern heraus und nimmt hin, dass der Rest erst einmal unbekannt bleibt.

Eines der ersten Worte war das “het”. Dieses heißt soviel wie “es” oder “das”. Das hilft schon einmal eine ganze Menge weiter. Ein weiteres sehr oft vorkommendes Wort war “verdraging”. Dieses konnte Fabian regelmäßig auf den Anzeigen der Bahn sehen, die er fast täglich benutzte, um zur Arbeit und wieder heimzufahren oder um in die Stadt nach Amsterdam zu kommen. Dieses Wort hieß auf Deutsch “Verspätung”. Später wird man dann feststellen, dass man eigentlich nur einzelne Buchstaben in einer bestimmten Art und Weise ersetzen muss, um auf das deutsche Wort zu kommen. Ursache ist die Zweite Lautverschiebung. Aber das stellt man dann erst noch später fest, wenn man sich wundert, warum man das Niederländische fast aus dem Deutschen berechnen kann und man in seiner Verwunderung mal wieder Wikipedia bemüht. Diese Lautverschiebung musste man eigentlich nur nochmals durchführen oder rückgängig machen, um vom Deutschen ins Niederländische zu kommen oder umgekehrt. Das klappt sogar bis ins Englische, auch wenn das deutlich schwieriger ist. Im Niederländischen hatte er es damit sogar mal geschafft, die Beugung eines unregelmäßigen Verbs richtig herzuleiten. Allerdings musste man das mit der Lautverschiebung nicht unbedingt wissen, um das zu können. Fabian wollte halt nur alles genau wissen und ist ein richtiger Wikipedia-Fan geworden.

Er erzählte dann auch, wie als er das erste Mal Briefmarken auf Niederländisch gekauft hatte oder wie er einmal abends nach Deutschland fuhr, umsteigen musste und Hunger hatte. Er war in den McDonalds am Bahnhof gegangen und hatte den Plan gefasst, die Bestellung in Niederländisch zu tätigen. Er stand in der Reihe nun schon als Zweiter, hörte nochmals seinem Vordermann intensiv zu, wie er sich einen Cheesebuger bestellte und dachte sich: ‘Einfach ein: Een Big Mac, alstublieft! - Dann bekommt man den Preis gesagt, den kennt man allerdings schon, steht ja an der Tafel und dann nochmals an der Kasse, man bezahlt, nimmt den Burger und dann war es das schon.’ Als Fabian dann an der Reihe war und seinen Wunsch vorgetragen hatte, fragte das Mädel mit der roten Mütze freundlich lächelnd: “Een menu?” Nein, kein Menü. “Ketchup of mayonaise?” Er wollte Ketchup. “Hier eten of meenemen?” Er wollte es mitnehmen. Langsam wurde ihm die ganze Sache unheimlich. “Met kaas?” Ja, er wollte ihn mit Käse. Gibt den auch ohne? “Iets te drinken erbij?” Er gab auf. Das hatte er jetzt nicht verstanden und konnte es sich auch nicht einmal zusammenreimen. Sie schaute in seine verwirrten und traurigen Augen und sagte ganz klar und akzentfrei: “Wollen Sie noch etwas zu trinken dazu?” Nein, er hatte keinen Durst. Aber er hatte das Gefühl, dass er jetzt einen roten Kopf bekommt. Er wollte sich auch nicht nach den umstehenden Gästen umschauen. Rotkäppchen grinste und Fabian musste seinen Zug erreichen. Er nahm nur noch seinen Big Mac, griff seine Reisetasche und sah zu, dass er raus kam.

Wieder kam eine Ansage. Der Zug erreicht jetzt Düsseldorf. Reisende stehen auf, suchen nach ihren Koffern und Taschen. Sie ziehen ihre Jacken an oder versuchen, die schweren Koffer aus der Ablage zu holen. Eine Schlange bildet sich im Gang. Menschen drängelten, sehen auf die Uhr, schauen sich entnervt um. Der Gang ist mittlerweile voll. Der Zug wird jedoch bis zum Halt noch mindestens fünf Minuten fahren. Die ganze Reihe steht bis dahin im Gang. Jeder schweigt, schaut aus den Fenstern, auf die Uhr, die Tasche, nur nicht den anderen anschauen. Das Halten des Zuges bringt dann für alle die Erlösung. Sie können endlich gehen.

Seine Nachbarin ist Krankenschwester. Sie war in Deutschland arbeitslos geworden, hatte dort lange nach einer neuen Stelle gesucht und wurde dann von einem niederländischen Krankenhaus angeworben. Jetzt musste sie noch einmal ein Jahr in die Ausbildung, weil das Aufgabengebiet einer niederländischen Krankenschwester breiter ist, als das einer deutschen. Das hat natürlich den Vorteil, dass man weniger teure Ärzte benötigt, da die Krankenschwestern teilweise deren Tätigkeiten übernehmen können. Sie hat allerdings die Bedingung, dass sie innerhalb eines halben Jahres fließend Niederländisch können muss. Allerdings bekommt sie auch den Sprachkurs und alle Lernmaterialien gestellt. Ein bißchen Fleiß und man kann es. Sie erklärt ihm dann auch, dass in dem niederländischen Krankenhaus alles besser organisiert und ausgestattet ist, als in den deutschen, in denen sie vorher war. In Deutschland wird halt nach Bedarf bezahlt. Wenn also jemand ein Wundliegegeschwür hat, dann bezahlt die Behandlung die Krankenkasse. Die Krankenhäuser habe also kaum ein Interesse, in die Ausstattung der Betten zu investieren. In den Niederlanden gibt es nur Fallpauschalen. Ein Wundliegegeschwür muss das Krankenhaus selbst bezahlen. Daher haben in dem Krankenhaus, wo sie jetzt arbeitet, alle Betten spezielle Matratzen, um Druckstellen zu vermeiden. In Deutschland diskutiert man erst noch die Vor- und Nachteile von Fallpauschalen.

Das, was Fabian da erzählt bekam, war ein Pragmatismus, den er bei den Niederländern zu schätzen bekam. Während man in Deutschland bei 13% Arbeitslosenquote darüber diskutiert, ob die deutsche Wirtschaft gut oder schlecht ist und wie man am Besten Arbeitsplätze schafft, hatte Königin Beatrix einfach in einer Regierungserklärung ihr Volk zusammenstaucht, sie sollen Arbeitsplätze schaffen, weil sonst die Arbeitslosenquote auf 6% steigen wird und dann machen die Niederländer das einfach. Für Fabian hat die Zeit in den Niederlanden eine Erfahrung bereitet, wo er die Welt jetzt mit anderen Augen sieht. Viele Diskussionen, die in Deutschland geführt werden, betrachtet er nur noch mit Abstand. Er sieht die Welt jetzt viel entspannter und gelassener als noch vor seinem Umzug in die Niederlande.

Der Schaffner kommt und will die Fahrkarten sehen. Fabian und seine Nachbarin wühlen in ihren Taschen, um die Fahrkarten herauszuholen. Überall um sie herum gibt es ein Gewühle und Unruhe. Einige wuchten ihre schweren Koffer und Taschen von der Ablage. Natürlich sind die Fahrkarten ganz unten verstaut. Der Schaffner klettert über Taschen und Rucksäcke. Fabian hatte sich den Fahrschein über das Internet geholt. Der Schaffner hält nun sein Lesegerät über den Strichcode auf seinem Ausdruck und zieht Fabians BahnCard durch das Gerät. Seine Nachbarin hatte sich ihre Fahrkarte ebenfalls online gekauft. Das sah man noch selten, obwohl es die bequemste Methode war, einen Fahrschein zu erwerben. Ihr Blatt und die Karte wandert zurück und sie verstaut alles wieder in den Taschen.

Fabian verhedderte sich im Kabel der Kopfhörer. Die konnte er jetzt ja auch wegpacken, er braucht sie ja erst einmal nicht mehr. “Was haben sie denn gespielt?” fragte seine Nachbarin. Zuerst hatte er “Un monde parfait” von Ilona Mitrecey gehört. “Ach, das französische ‘Schnappi, das kleine Krokodil’”, meint sie. Er grinst, solche Kinderlieder sind derzeit wohl europaweit in Mode. Schnappi, das kleine Krokodil war in den Niederlanden über Wochen Nummer 1 in den Top 40. Als er eines Tages mal zum Bahnhof lief, hörte er sogar einmal einen Jungen zu einem anderen rufen: “Kom, Schnappi, schiet op! We wachten wachten op je!” “Was heißt das auf Deutsch?”, fragte sie. “Komm, Schnappi, beeile dich! Wir warten auf dich!”

Das zweite Lied, dass er gehört hatte, war Gwen Stefanis “Hollaback Girl”. Der Text hatte zwar keinen Tiefgang, aber das Lied fand er trotzdem klasse. Er hörte es gern. Als drittes hatte er noch “Jump Jump” von DJ Tomekk gehört. Er fand das Original von Kris Kross besser.

Der Zug hält nun Köln. Seine Nachbarin wünscht ihm noch eine gute Weiterreise und steigt aus. Fabian lehnt sich wieder zurück und schaut aus dem Fenster. Er wird das Wochenende wohl noch etwas in seiner Wohnung aufräumen und Wäsche waschen müssen. Am Montag muss er wieder arbeiten.

Seine neue Welt baute er sich schnell auf. Er war noch nicht einmal richtig nach Darmstadt gezogen, da war er schon in einen neuen Freundes- und Bekanntenkreis gekommen. Er hatte diesmal auch einen großen Vorteil. Er war über einen Freund an seine neue Stelle gekommen, den er noch aus dem Studium kannte. John Leipoldt war schon viele Jahre in der Region und über ihn konnte er sehr schnell viele Leute kennenlernen. Zwei seiner neuen Kollegen hat er dadurch schon auf einem Spieleabend bei John kennengelernt, bevor er seinen ersten Arbeitstag hatte. Jana ist sogar in seiner Gruppe im Berichtswesen, Konstantin ist Bereichscontroller für den Bereich ANS Products & Services. Sandra kannte er schon länger. Mit ihr ist John schon fünf Jahre zusammen. Sie arbeitet bei einem Logistiker. Sie wird er also in der Firma nicht sehen. Er war gut aufgenommen worden.

Der Zug nähert sich nun Frankfurt Flughafen. Die Ansage kommt wieder in drei Sprachen. Einmal hatte er diese sogar in vier Sprachen gehört. Da war dann noch die französische Variante dabei. Allerdings musste da der Zugchef schon mit der Ankündigung des Frankfurter Hauptbahnhofs beginnen, als er gerade mit der Begrüßung der Zugestiegenen in Frankfurt Flughafen fertig war.

Der Zug ist pünktlich. Fabian wird also seinen Zug nach Darmstadt bequem erreichen können. Seine Reisetasche wird er bis zur Einfahrt in den Hauptbahnhof über sich liegen lassen. Er war diese Strecke nun schon oft gefahren. Da weiß er, wann welcher Handgriff notwendig ist. Zurückgelehnt schaut er daher noch entspannt dem Treiben draußen auf dem Bahnsteig zu. So viele Menschen! Wo wollen sie hin? Kommen sie von daheim oder fahren sie dorthin zurück? Der Zug füllt sich wieder. Der Pfiff ertönt. Es geht weiter.

1. Teil - 2. Kapitel - Der neue Arbeitsplatz